Die Kunst der Muße

»Das Dringliche ist selten wesentlich. Das Wesentliche ist selten dringlich.«

Muße?

Lange war Müßigang oder Muße verpönt. Unter dem Namen Träg- oder Faulheit ein Laster, in der christlichen Theologie sogar eine Todsünde!
Doch in Zeiten des globalen Arbeitswahnsinns gewinnt das Konzept der Auszeit eine neue Dimension.
Ein ausgedehnter Spaziergang, kochen, malen, Musik - erlaubt ist, was den Geist in die Ferne schweifen lässt, und gleichzeitig die Wahrnehmung in einer konzentrierten Entspannung hält.

Das Innehalten und Verweilen der Muße gibt Ideen die Chance, in stillen Momenten in Erscheinung zu treten. Die besten Lösungen kommen bekannterweise erst dann zustande, wenn man nach quälender Arbeit dem Geist eine Pause verschafft.

Die Muße ist demnach kein Nichtstun, sondern eher ein Pause des zweckgerichteten Tuns.

Kunst als Muße fordert die Wahrnehmung, und bringt das Denken auch im Alltag auf neue Bahnen. Der meditative Charakter des Zeichnens, die Wiederholung und Verfeinerung subtiler Bewegung der Hände, das Gleiten von Stift auf Papier, das wachsame Beobachten.

»Die Glückseligkeit des Menschen ist nur in Muße zu erreichen.« — Aristoteles

Muße in diesem Sinne ist auch Selbstverwirklichung. Als beliebtes Thema haben genügend Philosophen die Muße als ihre Muse verteidigt und der Menschheit sogar das Recht auf Faulheit attestiert.

Macht Muße schön & erfolgreich?

Nicht von ungefähr ist Muße für viele ein Sehnsuchtsort. Als Privileg war das zweckfreie Handeln in Form von Literatur, Musik und Handarbeit jahrhundertelang Zeitvertreib der Mächtigen aus Adel und Klerus. Die schöpferische Tätigkeit, die nicht vordergründig der materiellen Existenzsicherung diente, wurde als Anregung des Geistes und wegen der Entfaltung des menschlichen Potentials geschätzt.

Für Gehetzte: Zeit nehmen

Dieses Potential zu entfalten gilt auch heute noch.
Besonders dann, wenn man am wenigsten Zeit zu haben scheint, sollte man sich am meisten davon gönnen. Denn hinter unseren Kommunikationskanälen verstecken sich Mechanismen, die auf Dauer dem Gehirn schaden können.

Reize reizen

Unsere Wahrnehmung liebt neue Information und reagiert auf eingehende Nachrichten mit der Aktivierung des Belohnungszentrums des Gehirns.
So kann sich ein Kreislauf aus immer mehr und immer schneller aufbauen, der zu einer Dauerbelastung werden kann und deshalb eine ausgleichende Instanz braucht.

Dabei ist das Getriebensein nicht nur nachweislich schlecht für die Gesundheit - wir leben außerdem an den lebenswerten Momenten vorbei.
Als Möglichkeit der Selbstverwirklichung ist die Muße ein kontrollierter Rückzug aus dem Alltag.

Notweniges Laster

Manche Hirnforscher vermuten sogar, dass die Muße ein notwendiger Bestandteil eines erfüllten Lebens ist.

Die Vielzahl an Reizen, die auf uns einströmen, verdichten sich zu einem Reiz-Reaktionsmuster, das uns täglich zu tausenden Reaktionen auffordert - Werbung, Arbeit, Privates.
Diese Forderungen werden aber auf Dauer als eine Fremdbestimmtheit wahrgenommen, da die eigene Zeit nicht mehr frei verfügbar scheint. So baut sich zunächst unbewusst Druck auf.

Entscheidet man sich aber aktiv für eine Auszeit, gewinnt man auch die Deutungsmacht über das eigene Zeitempfinden zurück. Das ist auch der Grund, weshalb die verpflichtenden Spaßprogramme engagierter Personalabteilungen nicht immer funktionieren. Muße lässt sich nicht erzwingen, sie entzieht sich der Macht des Befehls.
Als aktive Entscheidung zeigt sie den Wunsch nach konzentrierter Ruhe auf, und sucht nach ganz persönlichen Vorlieben des Ausdrucks.

Rosinen braucht der Teig

Die Muße ist somit ein Innehalten, ein Überlegen, was wir denn für uns selbst wollen und brauchen. Außerdem ist Muße Vor- und Nachbereitung der eigenen gesellschaftlichen Aufgabe und Verantwortung, Reflexion, Sammlung, Inspiration, Ruhepol.
Die Mußestunden werden zu einem Ort des Perspektivenwechsels, von wo aus die Herausforderungen des Alltags in anderem Licht gesehen werden können.

Flow-Meditation

Das Erlebnis der Muße ist dabei ein Wechsel zwischen Entspannung und Konzentration, ähnlich wie beim sogenannten Flow-Effekt.
Wie durch einen Filter verschwinden unwichtige Details, während man sich in die Essenz einer Sache vertiefen kann, bevor der Fokus unmerklich wieder auf das große Ganze wechselt.
Wer regelmäßig in der Muße die vielfältigen Fertigkeiten der Faulheit übt, kann auch im Alltag wichtiges von unwichtigem unterscheiden und sich länger auf gesetzte Prioritäten konzentrieren.

Lernen und Muße

Bei näherer Betrachtung ist die Muße mit dem Konzept des spielerischen Lernens verwandt. Das altgriechische Wort scholae bezeichnet die »Gelegenheit oder Möglichkeit, etwas zu tun«, also das Ausüben einer Tätigkeit, die nicht direkt mit der Arbeit oder einem Nutzen verbunden ist.

Das lateinische Lehnwohrt scola bezieht sich ganz in diesem Sinne zunächst auf die Ruhebänke in Gemeinschaftsräumen.

Auch in diesem Fall bestätigt die Forschung, dass Lernen nicht unter Zeitdruck und Angst passiert. Erkenntnis und nachhaltiges Einprägen findet in der Muße statt, wenn die Gedanken den Raum haben, sich nach allen Seiten zu öffnen.

Die träge Leichtigkeit der Muße ermöglicht es uns außerdem, ganz in einer Sache aufzugehen. Erst durch so eine tiefgehende Betrachtung erschließen sich neue Zusammenhänge.

Auch deshalb sind an Schulen die musischen Fächer nach wie vor wichtige Bestandteile des Unterrichts: Muße muss gelernt werden, um auch in anderen Bereichen des Lebens zu wirken. Dann kann sie allerdings überall gefunden werden und trägt zur Entwicklung der Persönlichkeit bei.

Zukunftskompetenz durch Muße

Die Muße schult somit die gefragte Kompetenz des kreativen Denkens. Gleichzeitig lehrt die Muße das langfristige Planen - beides Fähigkeiten, die zu Unrecht als Gegensätze gehandelt werden.
Statt reaktive Lösungen zu finden, ermöglicht uns die in der Muße geübte Ruhe das Denken völlig neuer Konzepte.

Wer sich gerne eingehend mit neuen Erkenntnissen über die Muße auseinandersetzen möchte, dem sei das Mußemagazin der Universität Freiburg ans Herz gelegt.

In diesem Sinne: Lasst uns in dieser wundervollen Jahreszeit der Muße frönen. Für die Gesundheit! Für die schönen Momente des Lebens!

Coverfoto 2017 © Hoa Luo