Die Kunstwelt macht eine sensationelle Entdeckung - nur 100 Jahre zu spät: Hilma af Klint
1906 malt Hilma af Klint ihr erstes abstraktes Bild, vier Jahre vor Kandinsky, Mondrian oder Malewitsch. Wie kommt es, dass eine Frau Anfang des 20. Jahrhunderts die abstrakte Malerei begründet und niemand davon Notiz nimmt?
Wer war Hilma af Klint?
Hilma af Klint wurde 1862 auf Schloss Karlberg in Solna, Schweden als viertes Kind von Mathilda Sonntag und dem Marine-Offizier Victor af Klint geboren. Die Familie zog 1872 nach Stockholm, wo Hilma af Klint von 1882 bis 1887 an der Königlichen Akademie der freien Künste Malerei studierte, einer der wenigen Institutionen jener Zeit, die Frauen den Zugang zum Studium gewährten. Nach Abschluss der Kunstakademie fertigte sie, meist im Rahmen von Auftragsarbeiten, naturalistische Porträts und Landschaftsmalereien an.
Angestoßen durch den frühen Tod der Schwester Hermine entwickelte Hilma af Klint ein tiefes Interesse an Religion und Spiritismus. Bereits im Alter von 17 Jahren nahm sie an Séancen teil, ab 1886 findet sie sich regelmäßig mit vier weiteren Frauen in der Gruppe De Fem ("Die Fünf") zusammen, wo sie als Medium fungiert. Lange vor den Surrealisten betreibt die Gruppe automatisches Schreiben und Zeichnen. Wie viele andere Intellektuelle ihrer Zeit interessierte sie sich für die Theosphie und trat 1888 der Theosophischen Gesellschaft bei. Wer mehr dazu erfahren möchte, findet Anhaltspunkte bei Helena Petrovna Blavatsky, der Begründerin der Theosphie, und bei der englischen Bürgerrechtsaktivistin und Schriftstellerin Annie Besant, Mitarbeiterin von Blavatsky und wichtige Vertreterin der Bewegung.
»Deine Bemühungen werden Früchte tragen« — Geisterstimme
1905 erhielt Hilma af Klint auf spiritistische Weise die folgende Nachricht: „Du sollst eine neue Lebensanschauung verkünden. Deine Bemühungen werden Früchte tragen.“ Kennzeichnend für Hilma af Klints künstlerischen Weg wird eine Malerei jenseits des naturalistischen Ausdrucks. Ab November 1906 entsteht eine Serie 26 kleinformatiger abstrakter Bilder unter dem Titel Urchaos, zumindest 4 Jahre vor dem vermeintlichen Geburtsjahr der Abstraktion durch Kandinsky.
Bedeutendes Detail am Rande: 1908 lädt sie Rudolf Steiner, den Begründer der Anthroposophie und bedeutenden Vertreter der Theosophischen Gesellschaft, in ihr Atelier ein. Nach Steiners Kritik über Klints mediale Beeinflussung malte sie für die Dauer von 4 Jahren nicht (mit Ausnahme eines Porträts von 1910). Ab 1912 wirkt Hilma af Klint unabhängiger und beginnt an der Tempelserie zu arbeiten. Das Jahr 1906 kennzeichnet den Beginn eines Werks, das bis zum Tod von Hilma af Klint am 21. Oktober 1944 in Djursholm über 1000 Gemälde umfassen wird. Im Zentrum ihres Œuvres steht eine Serie 193 großformatiger Gemälde unter dem Titel Malereien für den Tempel.
»Die Kunstgeschichte muss umgeschrieben werden« — FAZ
So titelte die Frankfurter Allgemeine Zeitung Anfang 2013. Gegenstand des Artikels war die Ausstellung Hilma af Klint. A Pioneer of Abstraction, die nach jahrelanger Vorbereitung 2013 in Stockholm eröffnete und später u.a. nach Berlin und Hamburg wandern sollte. Erstmals wurde das umfangreiche Œuvre von Hilma af Klint von den frühen naturalistischen Gemälden bis zur monumentalen Abstraktion der späten Werke öffentlich gezeigt. Die Schau war eine Sensation: Zwar wurden ab 1986 immer wieder Werke von Klint in Ausstellungen gezeigt; als Begründer der abstrakten Malerei galten aber weiterhin andere Künstler. Bis 2013 im Stockholmer Moderna Museet Hilma af Klint ihre Anerkennung als Pionierin der Abstraktion erhielt - mit 100 Jahren Verspätung. Heute gilt Hilma af Klint als Wegbereiterin der abstrakten und mystischen Malerei.
Was war der Grund für diese späte Einsicht? Die FAZ regt ein Gedankenexperiment an: Stellen Sie sich vor, Sie kaufen für sehr, sehr viel Geld Werke von Wassily Kandinsky, dem wichtigsten Vertreter und vermeintlichen Begründer der abstrakten Malerei. Stellen Sie sich weiter vor, dass Sie das nicht nur der Kunst wegen, sondern auch als Wertanlage tun. Wie würden Sie also die Nachricht aufnehmen, dass eine bis dato weitgehend unbekannte Malerin Jahre vor Kandinsky bereits abstrakt gemalt hat? Mit Verweis auf die Ausstellung Inventing Abstraction, 1910-1925 des MOMA New York, das zahlreiche Kandinskys besitzt, unterstreicht die FAZ die Tatsache, dass Hilma af Klint totgeschwiegen wurde: Hilma af Klint war nicht Teil der Ausstellung, „kein Werk in der Schau, kein Wort im Katalog“.
Nicht zuletzt lag es aber auch an Hilma af Klint selbst: Die Künstlerin zeigte ihre abstrakten Arbeiten zeitlebens nur im privaten Rahmen und verfügte testamentarisch, dass diese frühestens 20 Jahre nach ihrem Tod öffentlich ausgestellt werden durften. Ein großer Teil der Arbeiten war der Öffentlichkeit folglich nicht bekannt und bei Klints Neffen und Erben Erik af Klint gelagert. In den 1980er Jahren öffnete er diesen Bestand teilweise - für ausgewählte Kunsthistoriker und Theologen. Schließlich kam Klints Gesamtwerk von mehr als eintausend Werken und 125 Notizbüchern in die Obhut der Stiftelsen Hilma af Klints Verk, die es bis heute verwaltet und veröffentlicht.
Im Kino: „Jenseits des Sichtbaren. Hilma af Klint“
Die Dokumentation mit dem wundervollen Titel Jenseits des Sichtbaren. Hilma af Klint von der Regisseurin Halina Dyrschka widmet sich Leben und Werk der schwedischen Künstlerin.
Die cineastische Annäherung an eine Pionierin, deren sinnliches Werk nicht nur künstlerisch fasziniert, zeigt eine lebenslange Sinnsuche, die das Leben jenseits des Sichtbaren erfassen will. Die außergewöhnliche Gedankenwelt der Hilma af Klint reicht dabei von Biologie und Astronomie über Theosophie bis hin zur Relativitätstheorie und umspannt einen faszinierenden Kosmos aus einzigartigen Bildern und Notizen.
Der Film kommt am 28.08.2020 in die österreichischen Kinos.
Weiterführende Hinweise und Links
- Zum Film: https://www.filmladen.at/film/jenseits-des-sichtbaren/
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