Porträts: Gesichter zeichnen lernen
Wir haben einige unserer DozentInnen befragt, wie man das Wesen des Menschen über sein Gesicht einfangen kann, und spannende Antworten erhalten.
Was macht die Faszination des Porträt-Zeichnens aus?
Im Grunde kann man den Menschen nie ganz erfassen; ein Gesicht zeigt unendlich viele Details und Facetten in einem einzigartigen Zusammenspiel. Eigentlich ist immer nur eine Annäherung möglich. Das Suchen und Finden der richtigen Linien ist spannend und reizvoll.
Julija: »Beim Porträtzeichen sind alle Details wichtig; im Vergleich mit dem Modell wird jede unstimmige Kleinigkeit sofort sichtbar. Aber genau das macht das Zeichnen von Gesichtern so spannend! Es geht um kleine (manchmal sehr, sehr kleine) Änderungen — vielleicht geht die Nase nur ein Millimeter nach rechts, oder sind die Auge nur ein bisschen näher beieinander? Zu meinen Schülern sage ich: ‚Versucht mit dem Porträt zu reden‘, fragt: ‚Was ist deine Eigenart, wie genau schaust du aus? Inwiefern bist du anders als das Modell?‘ Mit genügend Übung erhält man die richtigen Antworten.« (Julija Zaharijevic: Grundlagen des Zeichnens)
Julija Zaharijevic, Jovan, Buntstiftzeichung, 50x35cm
Wie draufloslegen?
Vinz: »Grundsätzlich verfolge ich bei Gesichtern ein paar einfache Grundregeln: Die Augen liegen in der Mitte des Gesichts, also drüber und drunter sollte gleich viel Platz sein. Zwischen die Augen sollte ein weiteres Auge passen. Zur Orientierung hilft eine horizontale und eine vertikale Gesichtsachse.« (Vinz Schwarzbauer: Grafisches Erzählen: Comic, Illustration und Reportage Zeichnung)
Man beginnt also mit der Form des Kopfes und unterteilt diese oder man startet mit dem Zusammenspiel von Augen, Mund und Nase – man konzentriert sich auf Gesichtsphysiognomie und Mimik und zeichnet den Kopf später dazu. Die Nase befindet sich etwa die 1,5-fache Breite eines Auges unter denselben. Wenn der Mund skizziert ist, erhält man einen Eindruck, wie das Gesicht aussieht, und man sollte sich leichter tun, die Umrisse des Kopfes aufs Papier zu bringen. Wenn man mit Modellen arbeitet muss dieses Konzipieren ziemlich rasch erfolgen.
George: »Das Zeichnen von Gesichtern unterscheidet sich vom Zeichnen anderer Motive durch Schnelligkeit verbunden mit voller Konzentration. Es ist ein bisschen so, als würde man Autofahren und Autorennfahren vergleichen. Die Regeln sind gleich: Man achtet auf Komposition und Proportion – auf eine klare Konstruktion der Volumina basierend auf präzisen Konturen und kontrastreichen Schattierungen. Aber, wenn man sich für andere Motive etwas mehr Freiheit im Zeichnen erlauben und mehr Zeit aufwenden kann, müssen die Proportionen zwischen den Gesichtsteilen sehr genau und schnell fixiert werden. Voraussetzung für eine gute Arbeit ist eine sichere, geübte Kenntnis der anatomischen Konstruktion der Gesichtsteile: Nase, Augen, Mund, Ohren. Auf dieser Basis werden die feinen Relationen und Besonderheiten, die jedes Gesicht von anderen unterscheidet, fixiert.« (George Gheorghe: Mutter mit Kind: Maltechnik von der byzantinischen Kunst zur Renaissance)
George Gheorghe, Kopie nach Leonardos Dame mit dem Hermelin
Aber, selbst wenn du weißt, wie man eine Nase verschmälert oder stupsiger macht – wie die Fläche, wo die Tränen fließen, mehr Lebendigkeit in ein Porträt bringt – wie man für die Haare Handgelenk und Stift als Zirkel verwendet – selbst, wenn du die Regeln des schrittweisen Schattierens anwendest, um dein Gesicht aus dem 2-dimensionalen Blatt herauszuformen – und du weißt, wie man die Lippen zum Glänzen und die Augen zum Strahlen bringt – was bei den Ohren zu beachten ist und wo du den Hals beginnst – selbst, wenn du aufs Papier bringen kannst, dass ein Gesicht niemals ganz symmetrisch ist, fehlt oft noch etwas Entscheidendes …
Ein Porträt braucht eine Aussage
Was macht Rembrandts Porträts so lebendig und ausdrucksstark? Was macht die Faszination von Leonardo da Vincis Mona Lisa aus oder der Selbstporträts von Frida Kahlo? Das Gesicht zeigt die Seele unseres Seins. Es erzählt unsere Geschichte, die uns sozusagen ins Gesicht geschrieben ist. Ein junges Gesicht zeichnet sich einfacher als ein älteres mit Spuren der Zeit, die vom Leben berichten. Das Wort „trait“ in "Por-trait" (franz.) bedeutet Linie oder Strich und zugleich Charakter- oder Gesichtszug. Beim Porträt-Zeichnen setzen wir Linien, die den ganzen Menschen wiedergeben. Dieses Ganze kann der Zeichner aber immer nur intuitiv und niemals vollständig erfassen – Fragen tun sich auf, Spannung und Lebendigkeit entstehen.
Wie zeichnet man das Gesicht einer Comicfigur?
Beim Zeichnen von Comicfiguren hingegen, braucht es diese Vielschichtigkeit nicht: Der Gesichtsausdruck der Fantasiecharaktere muss eindeutig lesbar sein – bestimmte, abrufbare Züge legen den Charakter fest und ermöglichen die Wiedererkennbarkeit der Figuren in den Geschichten.
Vinz: »Ich versuche mit wenigen Linien das Wesen der Figur auf den Punkt zu bringen und markante Merkmale zu betonen. Comics funktionieren eher wie eine Art Zeichensprache als eine realistische Abbildung. Besonders über die Augenbrauen kann man sehr gut Emotionen vermitteln und lesbar machen. Meistens habe ich bei meinen Zeichnungen schon vorher ein Bild im Kopf das ich dann versuche aufs Papier zu bringen. Ich mache meistens mehrere Skizzen bis ich den Charakter aus meiner Vorstellung gefunden habe. Manchmal verwende ich auch Fotos als Orientierungshilfe, wenn z. B. ein Charakter auf einer wahren Person beruht oder von ihr inspiriert ist oder mir ein bestimmter Gesichtsausdruck nicht gelingt. Beim Gesichter-Zeichnen-Lernen bin ich Anhänger der Try & Error Methode. Hilfreich ist es auch, sich auf einen öffentlichen Platz oder ins Kaffeehaus zu setzen, Menschen zu beobachten und dabei schnelle Skizzen zu machen.« (Vinz Schwarzbauer: Grafisches Erzählen: Comic, Illustration und Reportage Zeichnung)
Vinz Schwarzbauer, Manga Eyes, erschienen im Landjäger Magazin, 2015
Woher kommt das Porträt-Zeichnen, wohin geht es?
In der Kunstgeschichte war der individuelle Gesichtsausdruck lange Zeit kein Thema. Angefangen bei der altägyptischen Kunst, wo die Menschen stilisiert und nur in ihrer sozialen Funktion ohne Alter oder individuelle Züge darstellet wurden, über die Griechen, für die der Mensch als vorbildlicher Idealtypus abzubilden war (Stratege, Dichters, Redner, Philosoph) bis zur römischen Büste, die meist recht nüchtern ausfiel. Auch im frühen Mittelalter verzichtete man auf Individualität und kennzeichnete den Dargestellten durch Wappen und Insignien.
Erst im 15. Jahrhundert nahm die Porträtmalerei in Italien und den Niederlanden Raum ein, wobei das Porträt-Zeichnen nur als Skizze diente. Die frühen Privatbildnisse wurden in eigens angefertigten Behältern aufbewahrt, mit Deckeln verschlossen und nur gelegentlich zum Betrachten hervorgeholt. Das 16. Jahrhundert gilt als die Blütezeit des Porträts, das das Selbstverständnis eines „modernen“ Menschen dokumentierte, der sich so präsentiert, wie er sich selbst sieht und gesehen werden will. (Leonardo da Vinci und Raffael, A. Dürer, Lucas Cranach d. Ältere). Im Barock stand die würde- und prunkvolle Präsentation im Vordergrund (P. P. Rubens); die Physiognomien wurden entsprechend dem Status angepasst, so auch bei den Standesporträts der Adelsdynastien. Rembrandt schuf dagegen schlichtere, psychologisch ausdrucksvolle Porträts. Bis ins 19. Jahrhundert waren Porträts meist nur wenigen Personen – dem Adel, dem hohen Klerus und den Künstlerkreisen selbst – vorbehalten.
Porträt oder Selfie?
Im 20. Jahrhundert fand die Kunst neue expressionistische Wege, das Bild des Menschen auszudrücken. Es wurde mehr Wert auf das Kommunizieren von Emotionen und der Psyche gelegt als auf die genaue Wiedergabe des objektiven Aussehens einer Person – was mehr und mehr von der Fotografie übernommen wurde. Das hohe Arbeitstempo O. Kokoschkas, dessen Frühwerk vom Porträt dominiert wurde, verblüffte die Zeitgenossen – das „Drauflosmalen“ bestimmte die Sitzungen, bei denen er auf vorbereitende Studien verzichtete. Später schwand das Bestreben nach Wiedererkennbarkeit noch weiter; viele Künstler verwendeten neben symbolischen oder surrealen Darstellungen zur Abstraktion neigende Formen (P. Picasso, A. Modigliani, F. Bacon).
Unsere Dozentin Mo Häusler sieht das ähnlich. Mo: »Durch die Erfindung der Fotografie kann Malerei sich endlich um sich selber kümmern und nicht mehr ums bloße Abbilden... Ich habe nie porträtiert; dieser "Duplizierung" habe ich mich immer verweigert. Was ich gerne mache ist nach (Arche)Typus arbeiten (vornehmlich nach meinem eigenen) – also nicht nach Fotos, Spiegel oder Modell, sondern aus der Emotion heraus. Und wenn sich da dann eine Ähnlichkeit herausbildet, soll es mir recht sein. Es ist aber nicht Hauptmotivation.« (Mo Häusler: Sieben Abende zur Zeichnung)
Mo Häusler, DaCapo 1, Aquarell, 2006
Berühren und berührt werden
Es macht einen Unterschied, ob man ein Gefühl – z. B. Glück – zeichnet, und das Bildnis dazu dient, diese Emotion zu kommunizieren (Mo) oder, ob ich eine bestimmte Person zeichne, die glücklich ist. Beim Porträt-Zeichnen geht es um Letzteres: nicht um die Emotion an sich, sondern um die Person. Es geht um die Beziehung zu derselben – um die Facetten ihres Seins, die vom Porträtisten interpretiert werden. Diese Beziehung gibt es auf diese Weise in der Fotografie nicht. Beim Zeichen bewirken der Rhythmus der Striche, das wiederholte Hinsehen, das intuitive Erfassen eine Auseinandersetzung mit dem Modell, die eine ganz eigene Qualität.
Lässt man sich zeichnen, wird man berührt. Der Zeichenstift bringt aufs Papier, was das Auge des Künstlers/der Künstlerin berührt. Umgekehrt muss aber auch der Zeichner, vom dem was er zeichnet, berührt werden, um es erfassen zu können. Diese Gegenseitigkeit, diese Verschränkung macht die Intensität des Porträtierens aus. Zeichnen ist eine Art von Begreifen. Sich zeichnend an ein Gesicht heranzutasten, von dem man ergriffen ist, das man aber nie restlos begreifen kann, ist faszinierend.
Probiere es einfach aus!
Titelbild: Vinz Schwarzbauer, Manga Eyes (Detail), 2015